Diesen Brief haben wir heute an die Verwaltung der Universität Tübingen geschickt:
Sehr geehrte Frau Prorektorin Monique Scheer, sehr geehrtes Rektorat,
Wer schon einmal hochschulpolitisch aktiv war und sich für die Interessen der Studierenden und der Uni-Beschäftigten eingesetzt hat, der weiß, wie schwierig bis unmöglich es ist, die Uni-Leitung dazu zu bewegen, auch nur für eine einzige Infomail den Univerteiler nutzen zu dürfen. Und dabei geht es immerhin um Belange, die mit der Universität direkt zu tun haben. Ganz andere Standards gelten offenbar dann, wenn es um politische Positionen geht, die dem Rektorat genehm sind. Am 27.4.2017 durfte in einer „von der Universitaetsleitung genehmigte(n) Rundmail“ ein gewisser Alexander Schilin für eine „proeuropäische Demo“ auf dem Holzmarkt werben. In der Mail kann man lesen, es ginge um den „Erhalt (!) einer demokratisch und solidarisch organisierten Europäischen Union“, um die „Bewahrung (!) eines europäischen Bündnisses zur Sicherung des Friedens und zur Gewährleistung von Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit“. Die Auffassung der Organisatoren ist also, dass die EU für all das steht: Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit.
Moment mal…
Frieden?
In ihren Anfängen war die europäische Einigung vor allem weltpolitisch motiviert, als Bollwerk gegen den Kommunismus und Stützpunkt für einen eventuellen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion – die Pläne für diesen Krieg lagen bereits in britischen Schubladen (als „Operation Unthinkable“). Dazu kam es nicht, aber EU-Staaten waren und sind für zahlloseKriege verantwortlich, als Verursacher und Beteiligte. Dazu zählt der Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999, den vor allem die deutsche Bundesregierung mit einer Reihe frei erfundener Vorwände (über einen angeblichen, in Wahrheit nie stattgefundenen Völkermord im Kosovo) vom Zaun gebrochen hat. Dazu zählen ebenso die Angriffskriege gegen Afghanistan, Irak, Libyen, die Interventionen in Syrien, Mali, der Elfenbeinküste, die Anti-Piraterie-Einsätze am Horn von Afrika, die indirekte Beteiligung am Krieg in der Ukraine, dem Massaker Saudi-Arabiens im Jemen und viele mehr. Doch nicht nur die einzelnen Staaten, auch die EU als solche ist und war an zahllosen Militäreinsätzen beteiligt: in Ex-Jugoslawien, Georgien, Afghanistan, Irak, Palästina und vielen afrikanischen Ländern. Ziel bei alldem ist nie der Schutz der „Menschenrechte“, sondern die Sicherung von Rohstoffen, Absatzmärkten, Transportwegen und Investitionen, wie es in diversen Strategiepapieren und „Weißbüchern“ immer wieder auch offen ausgesprochen wird. Der Ex-Verteidigungsstaatssekretär Friedbert Pflüger drückte das 2010 so aus: „Vielmehr muss die EU lernen, ihre Interessen auf den Schauplätzen der Welt zu definieren und durchzusetzen.“ Die EU ist zusammengenommen Weltmeister bei den Rüstungsexporten (mit 34% gegenüber 30% der USA 2006-2010)[1]. EU und NATO betreiben auf vollen Touren Mobilmachung undEskalation gegen Russland, die Stationierung von Truppen immer näher an der russischen Grenze, den Aufbau von „Raketenabwehrschilden“, die die nukleare Zweitschlagsfähigkeit (!) Russlands verhindern sollen und weitere Maßnahmen, die die Menschheit ständig dem Risiko der atomaren Auslöschung aussetzen. Nein, die EU ist kein Friedens- sondern ein imperialistisches Kriegsbündnis. Sie ist ohne die NATO nicht zu denken.
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit?
An den EU-Außengrenzen werden flüchtende Menschen (auf der Flucht vor Kriegen, die die EU mitverantwortet hat) zu Tausenden ertrinken lassen und in Südeuropa unter menschenunwürdigen Bedingungen jahrelang in Lager gesperrt. In zahlreichen osteuropäischen Ländern sind kommunistische Parteien und Symbole verboten, die Geschichte wird staatlich umgefälscht in Richtung einer Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus. Die EU selbst ist ein zentraler Akteur dieses rechten Geschichtsrevisionismus. Die EU arbeitet eng mit dem diktatorischen Regime in der Ukrainezusammen, an dem offene Faschisten beteiligt sind, das Krieg gegen das eigene Volk führt und fortschrittliche oder prorussische Oppositionelle brutal unterdrückt. Die EU kooperiert eng mit reaktionären Diktaturen wie Saudi-Arabien, Qatar oder Ägypten, um ihre Interessen in der Region zu wahren. Sie pflegt enge, auch militärische Beziehungen zu Staaten wie der Türkei und Israel, die für massive ethnische Unterdrückung verantwortlich sind. Wessen Freiheit ist also gemeint? Wohl eher die „vier Freiheiten“ aus der EinheitlichenEuropäischen Akte, die den Unternehmen ungehinderten Handel, Investitionen und billige Arbeitskräfte garantieren. Diese sind die „Grundidee“ der EU. Das kann man nicht im fortschrittlichen Sinne reformieren, sondern nur abschaffen.
Gerechtigkeit?
Die EU hat in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds in den vergangenen Jahren eine Politik der Massenverelendung in Südeuropa durchgesetzt, gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung. Obdachlosigkeit, Drogenkonsum, Suizidraten und Auswanderung schnellen in diesen Ländern in die Höhe, weil sich der Lebensstandard aufgrund der EU-Politik im freien Fall befindet. In Griechenland, Portugal oder Spanien sterben Menschen an CO-Vergiftung, weil sie sich keine Heizung mehr leisten können oder an heilbaren Krankheiten, weil das Gesundheitssystem zum Kollaps gebracht wurde. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Griechenland und Spanien hat keinen Job, die andere Hälfte arbeitet unter prekärsten Bedingungen. Und in der restlichen EU? Der Fiskalpakt und das Europäische Semester sorgen dafür, dass jedes Land seinen Haushalt „ausgeglichen“ hält, d.h. bei Sozialem, Bildung und Gesundheit spart, während gleichzeitig (laut Lissabon- und Europe2020-Strategie) die „Wettbewerbsfähigkeit“ des Kapitals zum obersten Ziel erklärt wird.
Es bleibt dabei: Die EU ist ein Herrschaftsprojekt der Banken und Konzerne, ein Feind aller Lohnabhängigen. Mit sozialer oder sonstwelcher Gerechtigkeit hat sie nicht das Geringste zu
tun.
Der Demo-Aufruf von „Pulse of Europe“ erweckt den Eindruck, gegen die EU wären nur „Rechtspopulisten“ à la AfD und Front National. Dementsprechend wäre man „demokratisch“ oder gar „links“, wenn man für die EU ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die EU ist ein autoritäres, reaktionäres Gebilde, in dem nicht-gewählte Institutionen wie die EZB oder EU-Kommission Herrschaft über Hunderte Millionen Menschen ausüben – immer im Interesse des Kapitals, immer gegen die Interessen der breiten Masse.
Viele Menschen empfinden das so und suchen ihr Heil in rechten Rattenfängern wie Le Pen. Die Ursache dafür ist aber der real existierende Kapitalismus der EU. Wer gegen Le Pen für die EU demonstriert, macht den Brandstifter zur Feuerwehr. Die kapitalistische Standortkonkurrenz, die von der EU noch bei weitem verschärft wurde, ist ja überhaupt die Grundlage des rückwärtsgewandten Nationalismus dieser Kräfte.
Diese Einschätzung muss man nicht teilen. Wir verlangen nicht, dass die Uni-Leitung sie sich zueigen macht. Wir verlangen aber, dass sie davon absieht, einseitiger Propaganda wie der von „Pulse of Europe“ eine Plattform zu bieten, während sie ansonsten politische Neutralität vorheuchelt.
Mit freundlichen Grüßen
Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Tübingen
[1]Quelle: Informationsstelle Militarisierung: Factsheet EU-Militarisierung, online: http://imi-online.de/download/eu2012_web.pdf