Ein Propagandabegriff und seine Hintergründe
Im Oktober 2008 erkundigte sich die Bundestagsabgeordnete der Linken Gesine Lötzsch bei der Bundesregierung, ob diese die Volksrepublik China für einen „Unrechtsstaat“ halte. Später schrieb die Politikerin in einem Zeitungsartikel, „nach der gruseligen Olympiaberichterstattung von ARD und ZDF“ sei sie sicher gewesen, die Antwort werde Ja lauten. Tatsächlich aber hieß es: »Aus Sicht der Bundesregierung bemüht sich die chinesische Regierung im Rahmen ihrer Reform- und Öffnungspolitik um den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen.«
Was die Staatsmedien sollten, konnte sich die Regierung nicht leisten. Der Begriff dient dem politischen Kampf gegen Sozialismus und KommunistInnen, kaum dem gegen Faschismus. Die erste rechtswissenschaftliche Abhandlung in der BRD, in der er für das Naziregime verwendet wurde, datiert von 1979.
Enteignung von Kriegsverbrechern als „Weg in die Diktatur“?
Inflationär war dagegen die Anwendung von „Unrechtsstaat“ auf die DDR nach 1990. Die seit 2014 von Bodo Ramelow (Die Linke) geführte Landesregierung in Thüringen basiert sogar auf einem Koalitionsvertrag, in dessen Präambel die DDR so bezeichnet wird. Auch dort geht es um die Staatsdoktrin: Rot ist gleich Braun, also um Verharmlosung des Faschismus.
Die Sichtweise hat einen einfachen Grund: Bereits in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 wurden – gestützt z. B. auf den Volksentscheid in Sachsen am 30. Juni 1946 – Großgrundbesitzer, Kriegsverbrecher und aktive Nazis enteignet. Ein revolutionärer Akt, den die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Website unter die Überschrift „Auf dem Weg in die Diktatur“ stellt. Nicht als Unrecht gilt, dass z. B. der bis heute gültige Artikel 41 der Hessischen Landesverfassung, der vorsieht, Bergbau, Eisen- und Stahlunternehmen, Energiewirtschaft, Verkehrswesen, Großbanken und Versicherungen in Gemeineigentum zu überführen, durch Eingreifen der US-Besatzungsmacht und von CDU sowie SPD nie verwirklicht wurde.
Die Enteignung von Privateigentum an Produktionsmitteln gilt im BRD-Establishment als Urverbrechen, das, wo es stattfindet, alle staatliche Tätigkeit zu Unrecht macht. Die jüngst im Zusammenhang mit der Diskussion um Enteignung von Wohnungskonzernen hervorgeholten Bestimmungen des Grundgesetz-Artikels 14 (Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.) sind frommer Wunsch, kein Auftrag. Die DDR-Verfassung von 1949 legte demgegenüber fest, dass Missbrauch von wirtschaftlicher Macht zum Schaden des Gemeinwohls, z. B. bei Kriegsverbrechern und aktiven Nazis, die entschädigungslose Enteignung und Überführung in Volkseigentum zur Folge hat. Private Monopole wurden verboten, Vergesellschaftung anderer Unternehmen sollte nur auf gesetzlicher Grundlage und gegen Entschädigung stattfinden. Diese Artikel entfielen in der zweiten DDR-Verfassung, die nach landesweiter Aussprache in Betrieben und Kommunen am 6. April 1968 durch einen Volksentscheid mit 94,5 Prozent der Stimmen angenommen wurde – dem einzigen Referendum über eine Verfassung in der deutschen Rechtsgeschichte. Vielmehr stützte sie sich auf die sozialistische Eigentumsordnung, die „Ergebnis des Kampfes gegen das monopolkapitalistische Wirtschaftssystem“ sei. Das wurde als „Quelle der Kriegspolitik und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ bezeichnet. Artikel 11 garantierte das „persönliche Eigentum und das Erbrecht“, Artikel 14 legte fest, dass private Wirtschaftsunternehmen gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen hätten.
Das Demokratieverständnis des Grundgesetzes
Demokratie auch in der Wirtschaft war im Grundgesetz nicht vorgesehen. Sie musste beim Anschluss der DDR 1990 beseitigt und verteufelt werden. Das geschah in Form eines Rachefeldzuges, dessen Hauptziel die Reprivatisierung ohne Mitbestimmung der Beschäftigten auch von Betrieben war, die erst nach 1949 entstanden waren. Strafprozesse lieferten flankierend die öffentliche Rechtfertigung. Inbegriffen war, dass einige Grundrechte für DDR-Bürger bis heute nicht gelten, wie z. B. das der freien Berufswahl für abgewickelte Wissenschaftler, persönliche Eigentumsrechte wie bei Rentenansprüchen oder das Verbot rückwirkender Strafbestimmungen. Zieht ein Betrieb 2019 von Berlin-Tempelhof nach Berlin-Mitte, also in den „Osten“, gibt es weniger Lohn, geringere Sozialabgaben, aber längere Arbeitszeiten. Der Gleichheitsgrundsatz ist außer Kraft.
Selbst die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben zweimal bestätigt, dass es beim Begriff „Unrechtsstaat“ um Propaganda geht. 2008 beantworteten sie eine Anfrage von Gesine Lötzsch dazu so: »Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs Unrechtsstaat gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.« Es gehe bei der Verwendung des Begriffs »zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates (…) zu diskreditieren«. In einer Ausarbeitung von 2018 wurde das im Wesentlichen wiederholt.
Staatliches Unrecht in der BRD, wie das Verbot der KPD 1956, spielt aber auch in solchen Stellungnahmen keine Rolle. Vor allem aber wird ignoriert: Auf dem Gebiet der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, wie sie von den Vereinten Nationen 1948 und 1966 verkündet wurden, ist die BRD nach den eigenen Maßstäben kein Rechtsstaat. In der Auflistung der 19 Bürgerrechte im Grundgesetz tauchen sie nicht auf. In allen DDR-Verfassungen waren sie dagegen enthalten. In der BRD herrscht daher auf diesem Gebiet Willkür, also Unrecht, sichtbar z. B. im „Hartz IV“-Regime und dessen Sanktionen.
Nicht demokratisch und sozialistisch genug
Auch in der DDR gab es Unterschiede zwischen dem, was die Verfassung vorsah und dem, was praktiziert wurde. Recht und dessen Entwicklung sind auch im sozialistischen Staat ein widersprüchlicher Prozess. Die Rechtsordnung aber war grundsätzlich auf das Wohl und die Beteiligung der Bevölkerung gerichtet. Vorzuwerfen wäre ihr höchstens, dass sie „nicht demokratisch und sozialistisch genug“ war, so der marxistische Rechtstheoretiker Hermann Klenner.
Zugleich gilt: Wer in der Bundesrepublik die Systemfrage stellt, darf sich nicht nihilistisch zum Demokratie- und Bürgerrechtsgehalt des Grundgesetzes verhalten. Verfassung und Recht sind ein Kampffeld der Klassen. Max Reimann schrieb daher 1974 zum Grundgesetz: „Gerade im Kampf gegen dieses System war es nicht gleichgültig, wie viel an demokratischen Rechten für die Arbeiterklasse, für die werktätigen Menschen, für die Jugend, für die Frauen durchgesetzt werden konnte.“
Von Arnold Schölzel
Arnold Schölzel (72) ist promovierter Philosoph, Autor und Journalist. Er schreibt regelmäßig für die marxistische Tageszeitung „jungeWelt“, deren Chefredakteur er lange war und leitet das Monatsmagazin „Rotfuchs“.