{"id":2040,"date":"2015-01-27T22:28:43","date_gmt":"2015-01-27T22:28:43","guid":{"rendered":"http:\/\/www.sdaj-netz.de\/ov-tuebingen\/?p=791"},"modified":"2015-01-27T22:28:43","modified_gmt":"2015-01-27T22:28:43","slug":"griechenland-radikaler-linksruck-oder-alter-wein-in-neuen-schlaeuchen-2","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.bawue.sdaj.org\/2015\/01\/27\/griechenland-radikaler-linksruck-oder-alter-wein-in-neuen-schlaeuchen-2\/","title":{"rendered":"Griechenland: \u201eradikaler Linksruck\u201c oder alter Wein in neuen Schl\u00e4uchen?"},"content":{"rendered":"
\t\t\t\tDie Wahlen in Griechenland brachten einen erdrutschartigen Sieg f\u00fcr das \u201eLinksb\u00fcndnis\u201c SYRIZA, was deutsche Rechte und \u201eLinke\u201c in helle Aufregung versetzt: In der konservativen FAZ meint man, mit Bedauern nat\u00fcrlich, \u201eDas Gros der griechischen W\u00e4hler hat sich f\u00fcr extreme Positionen entschieden, linke wie rechte\u201c. Das Blockupy-B\u00fcndnis, das u.a. von der interventionistischen Linken, der Partei Die Linke, dem trotzkistischen \u201eRevolution\u00e4ren Sozialistischen Bund\u201c und dem sich kommunistisch nennenden B\u00fcndnis Ums Ganze getragen wird, feierte den erwarteten Sieg von SYRIZA dagegen mit der Einrichtung eines eigenen Blogs (\u201eBlockupy goes Athens\u201c). Auch in der marxistischen Tageszeitung junge Welt konnten manche ihre Sympathien f\u00fcr SYRIZA kaum verbergen. Und sogar die MLPD, die f\u00fcr gew\u00f6hnlich Alles und Jeden als \u201eRevisionisten\u201c beschimpft, will innerhalb des B\u00fcndnisses \u201emarxistisch-leninistische Kr\u00e4fte\u201c gefunden haben, mit denen sie zusammenarbeitet.<\/p>\n
Grund genug f\u00fcr uns, genauer hinzuschauen, was es mit dem vielbeschworenen \u201eLinksruck\u201c in Griechenland auf sich hat.<\/p>\n
Zun\u00e4chst die wichtigsten Ergebnisse der Wahl: Die \u201eKoalition der radikalen Linken\u201c, kurz SYRIZA, konzentriert 36,3% der abgegebenen Stimmen auf sich und ist damit mit einigem Vorsprung Wahlsieger. Trotz der 50 Bonussitze, die das griechische Wahlrecht dem Sieger zuspricht, kommt die Partei damit aber nur auf 149 Sitze, was zwei zu wenig f\u00fcr eine absolute Mehrheit (also eine Alleinregierung) sind. An zweiter Stelle liegt mit 27,8% die konservative Nea Dimokratia (\u201eNeue Demokratie\u201c, ND), die den bisherigen katastrophalen Kurs der Massenverarmung fortsetzen will. Auf dem dritten Platz stehen mit 6,3% die Neonazis der Chrysi Avgi (\u201eGoldene Morgend\u00e4mmerung). Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) konnte ihr schlechtes Wahlergebnis von 2012 immerhin etwas verbessern und kommt auf 5,5% der Stimmen. Mit den rechtspopulistischen \u201eUnabh\u00e4ngigen Griechen\u201c (ANEL), dem liberalen \u201eFluss\u201c (To Potami) und der de facto ebenfalls liberalen PASOK schafften noch drei weitere Parteien den Einzug ins Parlament. Die \u201eUnabh\u00e4ngigen Griechen\u201c haben bereits zugestimmt, einer von SYRIZA gef\u00fchrten Regierung beizutreten. Damit hat sich die im Wesentlichen aus verschiedenen Rechtsabspaltungen der KKE gebildete Linksfront einen Koalitionspartner angelacht, der es in sich hat: Die ANEL ist zwar bei weitem nicht mit den braunen Schl\u00e4ger- und M\u00f6rdertrupps der Chrysi Avgi gleichzusetzen, positioniert sich aber ebenfalls stramm nationalistisch und ausl\u00e4nderfeindlich: So sollen ihrem Regierungsprogramm nach alle Migranten zwangsregistriert und die \u201eillegalen\u201c von ihnen abgeschoben werden. Da die Partei in der gegenw\u00e4rtigen Krise allerdings vor allem durch oberfl\u00e4chliche Demagogie gegen das Establishment, gegen die angebliche Aufl\u00f6sung der Nationalstaaten in der EU und die in den Memoranda der Troika vereinbarte Verelendungspolitik auff\u00e4llt, ist das B\u00fcndnis mit der SYRIZA keineswegs so erstaunlich wie es zun\u00e4chst scheint. Tats\u00e4chlich wurde die Zusammenarbeit zwischen den beiden populistischen Parteien schon in der Opposition, seit M\u00e4rz 2013 offiziell verk\u00fcndet. Die KKE hatte die Querfront mit den Nationalisten damals scharf kritisiert, im Gegensatz zur \u201eantinationalen\u201c Linken hierzulande, von denen nicht wenige selbst ihr Herz f\u00fcr die SYRIZA entdeckt haben und die, fernab aller Tatsachen, gerade die KKE des \u00d6fteren als \u201enationalistisch\u201c diffamieren, weil diese die EU ablehnt \u2013 die EU ist demnach anscheinend in den Augen dieser \u201eLinken\u201c ein genuines Friedensprojekt, ein Schritt hin zum harmonischen Zusammenleben der Menschheit zu sein. So weit kommt man eben, wenn man sich von der Imperialismusanalyse verabschiedet.<\/p>\n
Das Wahlergebnis zeigt ohne Zweifel einen Umbruch im griechischen Parteiensystem: Das bis 2012 vorherrschende Zweiparteiensystem von PASOK und ND ist zusammengebrochen, die PASOK ist von 44% (2009) auf 4,7% (2015) gefallen. Aber bedeutet der Aufstieg von SYRIZA wirklich einen dramatischen Linksschwenk, wie die Massenmedien suggerieren?<\/p>\n
Programmatik und \u00f6ffentliches Auftreten der Partei legen jedenfalls andere Schlussfolgerungen nahe: In ihrem Regierungsprogramm versprach SYRIZA lediglich, einige der schlimmsten Sparma\u00dfnahmen wie \u201everfassungswidrige Entlassungen\u201c, die Zerschlagung der zentralisierten Tarifverhandlungen und die Senkung des Mindestlohns r\u00fcckg\u00e4ngig zu machen und einige Erleichterungen f\u00fcr die \u00e4rmsten Teile der Bev\u00f6lkerung. Zudem will die \u201eLinksregierung\u201c die Korruption bek\u00e4mpfen und durch eine Unterst\u00fctzung kleiner und mittlerer Unternehmen die kapitalistische Entwicklung wieder in Gang kriegen. \u201eLinksradikal\u201c ist so ein Programm wohl kaum, sondern standardm\u00e4\u00dfig sozialdemokratisch und weit davon entfernt, das kapitalistische System in Frage zu stellen. Immerhin k\u00f6nnten die versprochenen Reformen, wenn sie tats\u00e4chlich umgesetzt w\u00fcrden, die Leiden der verelendeten griechischen Bev\u00f6lkerung etwas lindern. Doch auch hier sind Zweifel angebracht: In der jetzigen Situation w\u00fcrde jede ernsthafte Verbesserung f\u00fcr die breiten Massen eine direkte Konfrontation mit dem Gro\u00dfkapital in Europa und seinen politischen Vertretern in Br\u00fcssel und Berlin voraussetzen. Gerade dazu ist SYRIZA aber nicht bereit: Im Mai 2014 betonte Parteif\u00fchrer Tsipras noch \u201emit der ganzen Kraft seiner Stimme\u201c, dass niemand die Zugeh\u00f6rigkeit Griechenlands zum Westen, zur EU und zur NATO anzweifeln wolle. Wer aber die Mitgliedschaft Griechenlands im Euro und der EU f\u00fcr nicht verhandelbar erkl\u00e4rt, hat in den Verhandlungen mit EU und Europ\u00e4ischer Zentralbank um neue Kredite und Streckung der R\u00fcckzahlungsfristen so gut wie keine Verhandlungsmasse mehr. Und wenn die SYRIZA ank\u00fcndigt, durch Bek\u00e4mpfung der Steuerflucht und St\u00e4rkung des Binnenmarktes das Geld f\u00fcr die versprochenen sozialen Wohltaten aufzutreiben, dann m\u00fcssten die daf\u00fcr erforderlichen Ma\u00dfnahmen gegen das Gro\u00dfkapital durchgesetzt werden. Mit den Vertretern dieses Gro\u00dfkapitals war Tsipras aber in den vergangenen Jahren stets auf gute Beziehungen aus und versprach ihnen schon 2012 ein \u201egesundes Gesch\u00e4ftsklima\u201c, falls SYRIZA die Regierung \u00fcbernehmen sollte. Widerspr\u00fcchlicher und unrealistischer k\u00f6nnte das Programm also kaum sein, aber gleichzeitig wird auch verst\u00e4ndlich, warum Tsipras und der Parteichef der Rechtspopulisten Panos Kammenos sich sehr viel mehr zu sagen haben, als man erwarten k\u00f6nnte. <\/span><\/p>\n Man kann sich also fragen: Wie konnte eine derma\u00dfen unglaubw\u00fcrdige Partei einen so klaren Wahlsieg erringen? Die Antwort liegt vor allem darin, dass die gro\u00dfe Mehrheit der griechischen Bev\u00f6lkerung in den letzten f\u00fcnf Jahren enorme Einschnitte in ihren Lebensstandard hinnehmen musste. Millionen Menschen leben am Existenzminimum oder darunter, das Geld reicht nicht f\u00fcr Miete und Strom, nicht f\u00fcr die Heizung im Winter und nicht f\u00fcr Nahrung. Angesichts von Zust\u00e4nden, wie sie die deutsche Arbeiterklasse w\u00e4hrend der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er erleben musste, klammern sich viele Menschen an jeden Hoffnungsschimmer. Und Hoffnung konnten die alten Parteien nicht mehr anbieten. Der junge, charismatische Tsipras dagegen steht in den Augen vieler f\u00fcr einen Neuanfang, f\u00fcr einen radikalen Bruch ohne Revolution. Das zeigt, dass die gro\u00dfe Mehrheit in Griechenland immer noch der \u2013 von SYRIZA flei\u00dfig gen\u00e4hrten \u2013 Illusion anh\u00e4ngt, ohne die Abschaffung des Kapitalismus, ohne den Austritt Griechenlands aus der EU, die Streichung aller Schulden und die Vergesellschaftung der Wirtschaft unter Arbeiterkontrolle w\u00e4re ihre Lage bedeutend zu verbessern. Der Aufstieg der SYRIZA bedeutet vor allem, dass diese Illusion zum Massenph\u00e4nomen geworden und sich ihre eigene Partei geschaffen hat. Das alte Parteiensystem mit einem konservativen und einem sozialdemokratischen Pol ist damit im Wesentlichen wiederauferstanden.<\/p>\n Das Wahlergebnis bedeutet auch, dass die Faschisten der Chrysi Avgi wohl auch in Zukunft eine wichtige Rolle in Griechenland spielen werden. Bedenkt man, dass in Griechenland aus historischen Gr\u00fcnden jahrzehntelang ein breiter antifaschistischer Konsens bestand, darf die Bedeutung dieser gef\u00e4hrlichen Entwicklung nicht untersch\u00e4tzt werden.<\/p>\n Eine grunds\u00e4tzliche Opposition wird die neue \u201eLinksregierung\u201c von den Kommunisten zu erwarten haben. Die KKE hat sich n\u00e4mlich nie der Illusion hingegeben, durch eine b\u00fcrgerliche Regierung mit \u201elinkem\u201c Anstrich, die die Herrschaft der Konzerne, der Banken und Reedereien nicht antastet, k\u00f6nnte sich die Lage des Volkes verbessern. Im Gegenteil wiesen die Kommunisten immer darauf hin, dass der Aufstieg der SYRIZA seit 2012 de facto die Bewegung auf der Stra\u00dfe und im Betrieb entscheidend geschw\u00e4cht hat. Die Weigerung der KKE, sich an einer Regierung Tsipras zu beteiligen ist also kein blindes Sektierertum, sondern einfach eine Weigerung, die eigenen Prinzipien und die Interessen der arbeitenden Menschen zu verraten und selbst zum Instrument der herrschenden Klasse zu werden.<\/p>\n Durch die neue Regierung wird sich absehbar also nicht viel \u00e4ndern in Griechenland und viele der Menschen, die ihr die Stimme gaben, werden sich entt\u00e4uscht wieder von ihr abwenden. Die KKE und die klassenk\u00e4mpferischen Gewerkschaften werden dann immer noch in den Betrieben, auf der Stra\u00dfe, in den Nachbarschaften und Universit\u00e4ten sein und versuchen, die berechtigte Entt\u00e4uschung und Frustration in eine fortschrittliche Richtung zu orientieren. An der Politik der KKE und den Problemen, mit denen sie zu k\u00e4mpfen hat, l\u00e4sst sich sowohl die sch\u00e4dliche Rolle der Sozialdemokratie ablesen, als auch ein Beispiel daf\u00fcr finden, dass eine kommunistische Partei manchmal auch unbeliebte Entscheidungen treffen muss, wenn sie ihren Charakter behalten will.<\/p>\n Und noch etwas ist aus dem Fall SYRIZA zu lernen: Dass die Sozialdemokraten nicht nur von fanatischen Konservativen, sondern auch von der gro\u00dfen Mehrheit der Linken in Europa und Deutschland mit einer wirklichen Opposition zur Politik des Kapitals verwechselt werden, zeigt vor allem auch, wie sehr das politische Koordinatensystem in den vergangenen vier Jahrzehnten nach rechts verschoben wurde. Auch wenn die politische Desorientierung von Teilen der marxistischen und antiimperialistischen Linken nicht gleichzusetzen ist mit dem Trauerspiel bei \u201eAntinationalen\u201c und Reformisten – Diese Rechtsverschiebung mitgemacht zu haben, bedeutet grunds\u00e4tzlich eine politische und moralische Bankrotterkl\u00e4rung der Mehrheit der Linken in Deutschland und dass hinter dem leeren Pseudoradikalismus, der \u201eStaat, Nation, Kapital\u201c auf einmal und von heute auf morgen abschaffen will, letztlich der Abschied von wirksamer Kapitalismuskritik, von Klassenkampf, Organisierung der Massen und Revolution steht.<\/p>\n Thanassis, T\u00fcbingen<\/p>\n Dieser Artikel erscheint in gek\u00fcrzter und ver\u00e4nderter Form in der POSITION 1\/2015\t\t<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Die Wahlen in Griechenland brachten einen erdrutschartigen Sieg f\u00fcr das \u201eLinksb\u00fcndnis\u201c SYRIZA, was deutsche Rechte und \u201eLinke\u201c in helle Aufregung versetzt: In der konservativen FAZ meint man, mit Bedauern nat\u00fcrlich, […]<\/p>\n","protected":false},"author":70,"featured_media":1428,"comment_status":"closed","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_et_pb_use_builder":"","_et_pb_old_content":"","_et_gb_content_width":"","footnotes":""},"categories":[1],"tags":[43],"yoast_head":"\n